Interkulturelle Psychotherapie mit Patienten aus islamischen Kulturkreisen

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Inhalt

Einleitung

Krankheit und Gesundheit haben in verschiedenen Kulturgruppen spezifische Bedeutungen und Ausdrucksweisen. Auch der Umgang mit der Krankheit und ihre Behandlung sind innerhalb der Kulturgruppen unterschiedlich. Nach der Frankfurter Studie „liegt der relative Anteil der Migranten in psychiatrischen Kliniken deutlich unter dem der deutschen Mitbürger“ (Holzman et al. 1994). Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass Migranten befürchten, wegen ihrem kulturellen bzw. religiösen Hintergrund in ihrer Krankheit nicht verstanden zu werden und deswegen psychiatrische Klinikaufenthalte vermeiden bzw. nicht in Anspruch nehmen können. 

Für Nordrhein-Westfalen bedeutet diese Erkenntnis, dass bzgl. kultur- und religionsspezifischer Krankheitsbetrachtung insbesondere die (türkisch-)muslimischen Patienten in Betracht gezogen werden müssen. Denn „Nordhrein-Westfalen ist das Bundesland, in dem, verglichen mit den anderen Bundesländern, die meisten Migranten leben und über 60% dieser Migranten stammen aus den ehemaligen Anwerbeländern; auf dem ersten Platz die Türkei, gefolgt von Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und dem ehem. Jugoslawien“ (vgl. Weilandt, et al. 2003, S. 7). 

Der Fokus in diesem Text soll deswegen auf türkische Migranten und auf ihre kulturellen Bedürfnisse im Rahmen einer Psychotherapie gelegt werden. Es soll praxisrelevantes Wissen über Werte von türkisch-islamischen Migranten aufgeführt werden, um die therapeutische sowie beratende Arbeit mit diesen Patienten zu erleichtern und ihnen eine kultursensible Psychotherapie zu ermöglichen.

Interkulturelle Offenheit in der Psychotherapie

Die Zusammenarbeit mit Migranten – unabhängig welcher Kultur – erfordert die Basis „Interkulturelle Offenheit“. Damit ist die Offenheit des Therapeuten gegenüber den fremden Kulturen gemeint. D.h. der Therapeut kennt sich in der Kultur des Patienten aus, respektiert sie und kann dem Patienten eine kulturgerechte Psychotherapie anbieten. 

Dem gegenüber muss der Patient auch eine kulturelle Integration aufweisen. Das Gelingen einer kulturellen Integration hängt von einer Zusammenarbeit von Aufnahmeland und Migranten ab. Die Migrierenden sollten in der Migration Problemlösungsstrategien entwickeln, um sich mit der eigenen und der Dominanzkultur auseinander zu setzen und eine bikulturelle Identität zu entwickeln. Boos-Nünning und Riesner stellen in ihrer Untersuchung die Forderung auf, dass Migranten erst durch den Erwerb der „bikulturellen Identität“ den Umgang in beiden Kulturen (in der eigenen sowie in der Fremden) lernen und somit erst eine ausgeglichene Persönlichkeit entwickeln können (Boos-Nünning 1977, Riesner 1990).

Für eine Inkulturation muss das Aufnahmeland die Basis für einen kulturellen Übergang schaffen, d.h. den Migrierenden müssen „Unterstützungssysteme zugänglich sein, Hilfe bei der Entwicklung von Problemlösungsstrategien (z.B. Beratung/Therapie), Unvoreingenommenheit gegenüber fremden Kulturen, Integrationsleistungen“, u.ä. (vgl. Radice von Wogau 2004, S. 48).

Alle Migrationsgenerationen, ältere sowie jüngere, benötigen in der Migration für eine gesunde und erfolgreiche Integration und Entwicklung beratende und insbesondere bezüglich psychischer Krankheiten therapeutische Hilfeleistungen, die ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund zugeschnitten sind, d.h. Hilfeleistungen, von denen die Migrationsgruppen profitieren können, und zwar: interkulturelle psychotherapeutische Behandlung (Therapie) und psychosoziale Beratung von Fachkräften mit interkultureller Offenheit bzw. Kompetenz.

Interkulturelle Kompetenz

„Interkulturell meint die Situation, in denen unterschiedliche kollektive (Imaginations-)Praxen der Differenz und Ungleichheit miteinander in Kontakt kommen, wobei dieser Kontakt immer in einem konkreten sozialen Raum stattfindet und somit nicht ’frei’, sondern vom Kontext der Begegnung präformiert ist.

Therapie / Beratung ist zum einen dann durch eine interkulturelle Dimension gekennzeichnet, wenn sie um ’interkulturelle’ Gegenstände und Themen kreist, wenn also das Verhältnis von kulturellen Praxen der Differenz und Ungleichheit thematisiert wird“ (Mecheril 2004, S. 300).

Interkulturelle Therapie / Beratung beinhaltet Fachkräfte mit interkulturellen Kompetenzen. Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Fachkräfte mit Migrationhintergrund oder aus einer fremden Kultur automatisch interkulturelle Kompetenzen besitzen. Nach Hinz-Rommel ist „interkulturelle Kompetenz eine der wesentlichen Fähigkeiten, angemessen und erfolgreich in einer fremdkulturellen Umgebung oder mit Angehörigen anderer ethnischen Gruppen zu kommunizieren. Bestandteile interkultureller Kompetenz sind neben notwendiger Fachlichkeit, einem angemessenen Methodenrepertoire und migrationsrelevanten Sachkenntnissen u.a. eigenkulturelle Bewusstheit, Authentizität, Selbstsicherheit, kommunikative Kompetenz, Flexibilität, Stresstoleranz, Empathie, Achtung und Respekt, Rollendistanz, Sprachkenntnisse sowie die Fähigkeit, mit Widersprüchlichkeiten ohne Irritationen umzugehen“ (Hinz-Rommel 1996, S. 8). Gaitanides teilt interkulturelle Kompetenz in zwei Bereiche ein: Zum einen in „kognitive Kompetenzen (kulturelles Hintergrundwissen, Kenntnisse über Historie, Struktur und Funktion von Migration, soziale, rechtliche und sozialpsychologische Situation von Einwanderern, kontextspezifische Bewältigungsstrategien, Erscheinungsformen und Erklärungsansätze ethnischer Vorurteile und Rassismus usw.); zum anderen in interkulturelle Handlungskompetenzen Empathie, Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz, Kommunikative Kompetenz“ (Gaitanides 2004, S. 317).

Demzufolge genügen nicht nur Sprachkompetenzen, um interkulturelle (Handlungs-)Kompetenz besitzen zu können. Nach Gün „erfüllt die Muttersprache mehrere wichtige Funktionen auf der Sachinformationsebene, der Ebene der Selbstoffenbarung, zur Herstellung der Beziehung zum Therapeut und als Medium des Appels. Diese Funktion kann die Muttersprache aber nur erfüllen, wenn der Therapeut auch über das kulturelle Hintergrundwissen verfügt“ (vgl. Gün 2007, S. 157). Wie Hinz-Rommel, Gaitanides und Gün zeigen, muss eine allgemeine interkulturelle Kompetenz vorhanden sein. Allgemeine interkulturelle Kompetenz kann auch als „Erkundungsprozess“ aufgefasst werden, d.h. der  Therapeut erkundet die kulturelle Weltsicht, Kommunikationsmuster und Handlungsstrategien seines Gegenübers (Hegemann 2004, S. 308) – es ist also die Kultur, um die es spezifisch geht.

Kultur

Kultur kann gesehen werden als „die Gesamtheit der Verhaltenskonfigurationen einer Gesellschaft, die durch Symbole über die Generationen hinweg übermittelt werden, in Werkzeugen und Produkten Gestalt annehmen, in Wertvorstellungen und Ideen bewußt werden“ (Fuchs u.a. 1994, Bd.1, S. 382). „Heute versteht man unter Kultur die raum-zeitlich eingrenzbare Gesamtheit gemeinsamer materieller und ideeller Hervorbringungen, internalisierter Werte und Sinndeutungen sowie institutionalisierter Lebensformen von Menschen“ (Klein; in: Schäfers 1995, S. 174). Kulturelle Richtlinien dienen dazu, das Individuum anzuleiten, sich den (religiösen) Normen, Wertvorstellungen, Erwartungen und Regeln seiner sozialkulturellen Umwelt entsprechend zu verhalten. Hierbei handelt es im eigentlichen Sinne um den Prozess der »Sozialisation«. 

In Psychotherapien von Migranten müssen die vorhandenen Konflikte immer in einem zusammenhängenden kulturellen Kontextes betrachtet und angegangen werden. 

Eine professionelle interkulturelle Therapie kann nur dann wirksam sein, wenn zum einen die persönliche Biographie und Erfahrung des Individuums berücksichtigt werden, d.h. die Beachtung der Lebenswirklichkeiten, in der der Patient aktuell lebt und zuvor gelebt hat. Zum anderen ist die Berücksichtigung des kulturellen, sozialen, religiös-ethischen, migrationsspezifischen rechtlichen und familiären Kontextes von großer Bedeutung. 

Gleichheit in der Behandlung

Gün folgert in seiner empirischen Untersuchung über die interkulturellen Missverständnisse in der Psychotherapie bei türkeistämmigen Patienten, dass es eine Bedienung einer „Gleichbehandlungsmaxime als therapeutisches Ideal“ existiert. D.h. dass Therapeuten ohne interkulturelle Kompetenzen türkische Patienten im Sinne einer Gleichberechtigung ohne Rücksicht auf ihren kulturellen Hintergrund genauso behandeln wie die deutschen Patienten. Gün weist auf die Gefahr der Gleichbehandlung von Ungleichem hin:

„Jeder hat eine andere Geschichte, eine andere Kultur, eine andere Herkunft, eine andere Familiensozialisation und daraus ergeben sich vielfältige Unterschiede. Die tatsächliche Gleichbehandlung scheint vielmehr darin zu bestehen, die Ungleichheit zur Kenntnis zu nehmen, und zwar bei allen im gleichen Maße. Der Grundsatz der Gleichbehandlung führt demnach zur Gleichmacherei, und zwar bei Migranten genauso wie bei deutschen Patienten (Gün 2007, S. 42 f.). (…) Gleichbehandlungsmaxime kann ein Therapeut erst dann gerecht werden, wenn er auf die individuellen, kulturellen, religiösen, ethnischen, sprachlichen und geschlechtsspezifischen Besonderheiten von Patienten eingeht, diese anerkennt und wertschätzt“ (a.a.O., S. 137).

Ferner vermutet Gün, „dass falsche Diagnosen im Zusammenhang mit der Gleichbehandlung von Ungleichem gestellt werden“ (a.a.O., S. 133). Das Verhalten der Patienten, deren Kultur nicht gekannt wird, kann schnell fehlgedeutet und falsch interpretiert werden. Nicht selten kann es dann zu Fehldiagnosen kommen. Auch Leyer weist darauf hin, dass „die Präsentation der Leiden durch Migranten sich sowohl in qualitativen als auch in quantitativen Studien von denen der deutschen Patienten unterscheiden“ (Leyer 1991, S. 30).

Professionelle Fachkräfte interkultureller Therapie

Fachkräfte mit interkultureller (Handlungs-)Kompetenz besitzen Wissen über „ethnologisches Verständnis, Geschlechterrollen, familiärer Lebenszyklus, Kenntnisse der kulturellen Tradition, Vertrautheit mit den sozialen Kontexten, Migrationsbewegung, Psychologie von Migranten und Diskriminierung, u.ä.“ (Radice von Wogau 2004, S. 83). Sie besitzen die Fähigkeit, das vorhandene Problem der Patienten aus unterschiedlichen Perspektiven zu durchleuchten. Denn interkulturelle Therapie bedeutet im Grunde eine „Simplifizierung“, also das Ordnen komplexer Situationen durch kulturelle Zuschreibungen, die dem Therapeuten zur Einsicht des vorhandenen Problems Sicherheit verschaffen soll (vgl. a.a.O., S. 46).

Aufgrund der Patienten in der Therapie vermittelten Empathie und Echtheit fällt es dem Patient leichter sich zu öffnen, da er sich verstanden fühlt. Die professionelle Fachkraft wird mit ihrer interkulturellen Fähigkeit eine „Dazugehörige“ (Insider), die sich in der Kultur und in dem Wertsystem des Klienten auskennt. Somit gilt die interkulturelle (Handlungs-)Kompetenz – die Kultursensibilisierung – als Grundlage für die Herstellung des Vertrauens zwischen dem Therapeuten und den Patienten und für eine erfolgreiche Therapie.

Wie oben angedeutet besitzen nicht nur Fachkräfte mit Migrationshintergrund bzw. aus fremden Kulturen selbstredend die Fähigkeit zur interkulturellen (Handlungs-)Kompetenz. Der Erwerb einer kulturellen Sensibilität und Kompetenz ist eine mühselige Arbeit und unabhängig davon, ob ein Migrationshintergrund vorhanden ist oder nicht. Als Bedingung steht für das Erlernen des Umgangs mit fremden Kulturen die praxisnahe Erfahrung der Lernenden. Hegemann schildert die Vermittlung interkultureller Kompetenz als „einen stetigen Wechsel zwischen Vermittlung von Wissen (Theorie) und den Erfahrungen (Praxis)“ (Hegemann 2004, S. 82). Dem theoriebezogenen Lernprozess ist durch professionell angeleitete Reflexion und Übung nachzuhelfen, d.h. interkulturelle Teamarbeiten spielen hierbei eine wichtige Schlüsselrolle. Besprechungen gemeinsamer Fallarbeiten mit deutschen und nichtdeutschen Kollegen – mit Bezug auf kultur- und migrationsspezifischer Dynamik – ist das wichtigste Lernfeld für ein interkulturelles Team. 

Schließlich kann eine professionelle interkulturelle Therapie nur dann wirksam sein, wenn Fachkräfte sich mit der „Lebenswirklichkeit“ ihrer Patienten vertraut gemacht haben.

Muttersprachliche Psychotherapeuten

Auch wenn hier nicht ausgeschlossen wird, dass interkulturelle Kompetenz nicht nur bei Fachkräften mit Migrationshintergrund vorhanden ist, sondern auch bei Fachkräfte aus anderen Kulturen, ist die Erfahrung aus der klinischen Arbeit mit türkischen Patienten und auch die Schlussfolgerung der empirischen Studie von Gün, dass türkische Patienten einen Therapeuten bevorzugen, der aus ihrer Kultur stammt. D.h. türkische Therapeuten werden von jungen sowie älteren türkischen Patienten bevorzugt, nicht nur der Sprache wegen, sondern aus Angst vor kultureller und religiöser Hemmnisse. Die türkischen Patienten fühlen sich bei einem Therapeuten aus der gleichen Kultur gleich verstanden und adäquater aufgehoben. Es ist zu vermuten, dass bei deutschen Therapeuten die türkischen Patienten die Befürchtung haben, dass sie ihre traditionellen Gewohnheiten aufgeben (assimilieren) müssen, weil diese nicht verstanden oder nachvollzogen werden können.

Aus meiner Erfahrung in der klinischen Arbeit mit türkischen Patienten geht hervor, dass diese Befürchtung (Assimilation) bei den türkischen Patienten auch nicht immer unbegründet ist. Diese Befürchtung, nicht verstanden zu werden, in seiner Person nicht akzeptiert zu werden, resultiert bei gewissen Patienten aus Erfahrungen heraus. Nicht selten wurden diesen Patienten z.B. in Beratungsstellen Erwartungen in diversen Themen (z.B. Erziehung, Ehegestaltung) herangetragen, die sie aus kulturellen und religiösen Gründen nicht erfüllen konnten und sich deswegen missverstanden bzw. abgelehnt gefühlt haben. Zum Beispiel berichteten einige türkische Patienten, dass sie in Beratungsstellen damit konfrontiert gewesen wären, dass es „normal“ sei, wenn die minderjährige Tochter sexuelle Beziehungen habe. Der Begriff „Normal“ ist relativ und abhängig von der jeweiligen Kultur. Ebenso ist es für einen türkischen Familienvater unvorstellbar, seinen unverheirateten Sohn nur aufgrund seiner Volljährigkeit nicht mehr mitversorgen zu müssen. Ein Familienvater, der seinen z.B. 25-jährigen Sohn noch bei sich wohnen lässt und ihn mitversorgt, ist in der türkischen Kultur eine Selbstverständlichkeit, bis der Sohn heiratet und für sich selber sorgen kann. Die Kinder sind eigentlich immer unter der elterlichen Verantwortung – unabhängig, ob sie finanziell unabhängig sind. Ein Vorwurf, warum ein Vater seinen Sohn noch mitversorge, oder die Empfehlung, dass der Sohn doch aus der elterlichen Wohnung ausziehen solle, wäre für diesen Vater eine Beleidigung seiner väterlichen Rolle. Eine vorzeitige Entlassung des Kindes aus dem elterlichen Haus bedeutet nämlich das Ausstoßen des Kindes und wird in der türkischen Gesellschaft verpönt. 

Die Bevorzugung einer türkischen Fachkraft ist nicht nur der Wunsch von türkischen Patienten, sondern auch die von den meisten deutschen Therapeuten und Ärzten. Gün zeigt empirisch, dass türkische Patienten nicht selten zu türkischen Therapeutenkollegen geschickt werden, weil sie sich mit der türkischen Kultur nicht auskennen und eine gewisse Unsicherheit fühlen. „Diese Unsicherheit geht bei einigen Therapeuten sogar soweit, dass sie in der Behandlung von Migranten auf ihre eigenen grenzen stoßen und nicht mehr wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen“ (Gün 2007, S. 143). Leyer betont, „dass alle Mitglieder einer Gesellschaft, auch Ärzte und Psychotherapeuten, die kollektiv geformten und über zumindest unbewußte seelische Vorgänge in jedem einzelnen verankerten Fremdenängste verinnerlicht haben“ (Leyer 1991, S. 183). Es ist ein Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit für die deutschen Therapeuten und Ärzte, wenn sie den türkischen Patienten vor seinem kulturell-religiösen Hintergrund nicht verstehen können.

Die Behandlung bei einem muttersprachlichen Psychotherapeuten lässt jedoch nicht automatisch auf eine erfolgreiche Psychotherapie schließen – sie kann auch Gefahren bergen. Auch bei diesen Psychotherapeuten können Hindernisse und Widerstand auf Seiten des Patienten auftreten. Die Patienten könnten glauben, dass sie bei einem muttersprachlichen Psychotherapeuten „Sonderrechte“ besitzen. Nicht selten wird von den Patienten der Wunsch an den Psychotherapeuten geäußert, dass sie in Sachen psychologisches Gutachten, psychische Arbeitsunfähigkeit, „Ausnahmen“ für die eigenen Landsleute ausstellen sollten. Verantwortungsbewusste Psychotherapeuten gehen diesen „Sonderwünschen“ jedoch nicht nach, und es könnte dann passieren, dass es bei den Patienten zum Widerstand kommt. 

Schwierigkeiten könnten aber auch auf Seiten der muttersprachlichen Psychotherapeuten entstehen. Ein muttersprachlicher Psychotherapeut ist der Gefahr ausgesetzt, die eigenen Landsleute schnell zu stereotypisieren. Dabei unterscheiden sich die Patienten voneinander in ihren Lebenswerten, trotz gleicher Kultur. Unabhängig einer Kultur sollte jeder Patient immer als Individuum gesehen werden. Kulturelle Kompetenz sollte nicht zur Vorbeurteilung dienen, sondern als Hilfemaßnahme und Richtlinie in einer Psychotherapie, um den Patienten besser zu verstehen und effektiver auf seine kulturellen Bedürfnisse einzugehen.

Dolmetscher

Türkisch-muttersprachliche Psychotherapeuten sind in Deutschland wenig vorhanden. Der Grund hierfür ist offen. Es könnte auch damit zusammenhängen, dass Psychotherapie bis vor kurzer Zeit von türkischen Migranten erst gar nicht beansprucht wurde, weil bei türkischen Migranten eher das Bedürfnis zu körperlicher Behandlung vorhanden ist. Betrachtet man die Daten der EVaS-Studie (1989), so sind insbesondere türkische Migranten als Klienten der Sozialpsychiatrischen Dienste deutlich unterpräsentiert und als Patienten bei Ärzten überpräsentiert (vgl. EVaS-Studie 1989).

Trotz der unausreichenden Besetzung von türkischsprachigen Psychotherapeuten steigt der Bedarf an muttersprachliche Psychotherapie bei älteren türkischen Patienten immer mehr. Eine Alternative sind Dolmetschereinsätze in der Psychotherapie. Der Einsatz von geschulten und supervidierten Dolmetschern kann eine hervorragende Arbeitserleichterung für den deutschen Psychotherapeuten sowie für den türkischen Patienten sein. Die Dolmetscher übernehmen quasi eine co-therapeutische Funktion, sie lernen sich abzugrenzen und neutral gegenüber dem Patienten sowie dem Psychotherapeuten zu sein. 

Der Einsatz von Dolmetschern sollte wie gesagt eine Alternative sein, da eine Übersetzung den körperlichen Ausdruck von Gefühlen/Emotionen des Patienten nicht wiedergeben kann und ggf. abspalten muss. Die Übersetzung erfolgt nämlich nur auf der verbalen Ebene. Die Bedeutung der Aussage des Patienten könnte verschoben werden, könnte mit unausreichenden deutschen Wörtern übersetzt werden. Vasquez und Javir weisen auf mögliche Fehler bei der Übersetzungsarbeit hin wie Auslassungen, Ergänzungen, Ersetzen (vgl. Vasquez/Javir 1991). Da es in einer Psychotherapie grundlegend um eine Vertrauensbasis geht, könnte der Patient aus Scham sich gegenüber dem fremden Dolmetscher mit seiner Problematik nicht ausreichend öffnen. Auch die Beziehung zwischen Patient und Therapeut wird durch den „Dritten im Bund“ gestört:

„Wer das Spiel ’Stille Post’ kennt, weiß, was eine solche Schaltstelle für Gefahren hinsichtlich Informationsverlust und -verfälschung schon auf der rein sprachlich-inhaltlichen Ebene birgt. (…) Auch ergibt sich zwangsläufig eine ’Triangulierung’, die vom Therapeuten nicht direkt bearbeitet werden kann“ (Toker 1998, S. 281).

Jedoch ist die Alternative – Dolmetschereinsatz – vorzuziehen, wenn eine psychotherapeutische Notwendigkeit besteht und kein muttersprachlicher Psychotherapeut aufzufinden ist.

 

Psychotherapie mit türkischen Migranten

In diesem Abschnitt sollen die soziale und gesundheitliche Situation und einige daraus resultierenden (kulturelle) Probleme der Migranten geschildert werden, die ab den 60er Jahren nach Deutschland kamen. Viele der Verhaltensweisen der türkischen Migranten lassen sich nicht nur aus ihrer Kultur heraus, sondern auch aus ihrem biographischen Lebenslauf erklären. Erst die Erkenntnis der Hintergründe ihrer Verhaltensweisen und Denkarten kann eine Psychotherapie erfolgreich machen. Für die Situationsdarstellung der Migranten wurden im klinischen Kontakt biographischen Daten mit über 70 Psychosomatik-Patienten erhoben. Es ist zu beachten, dass die unten aufgeführte Darstellung in 2.2 Situations- und Problemdarstellung der türkischen Migranten statistische Mehrheitsverhältnisse sind, die Ausnahmen zulassen und durch Einzelfälle widerlegbar sind. 

Die Bindungskultur

Zumal ist zu nennen, dass es nicht den Türken gibt. Die türkischen Migranten sind aus unterschiedlichen Regionen der Türkei (Dörfer, Stätte) mit unterschiedlichem Bildungsniveau (Analphabetiker, Grundschulabsolventen oder Absolventen der mittleren Reife) und unterschiedlichen religiösen Glaubensstärke nach Deutschland gekommen. Diese Unterschiede wirken sich auch auf ihr Verhalten sowie auf ihre Denkstrukturen aus. Ein türkischer Mitbürger wird sich nicht so verhalten wie ein anderer türkische Mitbürger. Eine Stereotypisierung von Türken oder ihrem Verhalten ist aus dem Grund unmöglich. Peseschkian macht in der Arbeit mit fremden Kulturen auf die Gefahr der Typisierung aufmerksam:

„Beim transkulturellen Vorgehen beschäftigen wir uns mit den in einer Kultur gültigen Konzepten, Normen, Wertvorstellungen, Verhaltensstilen, Interessen und Perspektiven. Gerade hier besteht eine Gefahr, der das transkulturelle Vorgehen (in doppelsinniger Weise) ausgesetzt ist: Die mit dem transkulturellen Vorgehen verbundene Typisierung: der Deutsche, der Perser, der Orientale, der Italiener, der Franzose etc. kann zu Stereotypen und Vorurteilen führen. Aus diesen Gründen erscheint es wichtig, sich bei transkulturellen Beschreibungen immer vor Augen zu halten, daß man es hier mit Typisierungen zu tun hat, also mit Abstraktionen oder statistischen Mehrheitsverhältnissen, die jederzeit Ausnahmen zulassen und durch den Einzelfall und geschichtliche Entwicklungen widerlegbar sein können“ (Peseschkian; in Heise /Schuler 2002, S. 201).

„Auch ist es relativ schwierig, von ’der türkischen Familie’ zu reden, genauso wenig  wie man von ’der deutschen Familie’ reden kann“ (Atabay 2001, S. 10). Die Familie ist in der türkischen Kultur der stärkste Sozialisationsträger, die Familie sozialisiert in erster Hinsicht den Menschen, sie macht den Menschen in der türkischen Gesellschaft erst sozialisationsfähig. Die Familienstruktur gibt es zwar in unterschiedlichen Ausprägungen, jedoch ist sie in jeder Ausprägung eine verhaltensbestimmende Kraft. Die türkische Kultur ist eine kollektiv geprägte Bindungskultur: Die Bindung unter den Familienmitgliedern ist so stark, dass sie weder in der Migration noch durch jüngere Generationen geschwächt werden kann. Jedes Familienmitglied hat eine bestimmte Rolle und Aufgabe zu erfüllen. Der Vater als Familienoberhaupt hat für die Familie materiell sowie für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse (gesundheitliches Wohlergehen) zu sorgen. Die Mutter ist die Haupterzieherin der Kinder und zu Hause übt sie ein heimliches Matriarchat aus, d.h. auch wenn es nicht so nach außen dringt, organisiert sie den Innenbereich und hat auch die Möglichkeit, den Ehemann in wichtigen Entscheidungen zu beeinflussen. In der Migration mussten die Paare Hand in Hand arbeiten, waren ohne Familienangehörige nur auf sich beschränkt. Nauck untersuchte in den 80er Jahren Veränderungen in türkischen Familienstrukturen und kam zu den empirischen Ergebnissen, dass „der Typ einer patriarchalisch-autoritär organisierten Großfamilie in der Migration durch den Typ einer partnerschaftlich-egalitär organisierten Gattenfamilie abgelöst wurde“ (vgl. Nauck 1985). 

Da die türkische (Bindungs-)Kultur hauptsächlich sehr stark kollektivistisch ausgerichtet ist, ist es in der Therapie sinnvoll, durch systemische Fragen die nicht anwesenden Familienangehörigen miteinzubeziehen, d.h. Joining und enactment Verfahren zu benutzen.

„Joining bedeutet zuzuhören, zu beobachten und sich in einer aktiven und kooperativen Partnerschaft zu verbinden. Es geht über in ein Beobachten der Familie und in ein „Kartographieren“ oder Einschätzen des Problems, wie es vom Klienten beschrieben wird. Wenn die Familienmitglieder nicht physisch anwesen sind, kann man Fragen stellen wie z.B.: „Was würde deine Mutter, dein Großvater oder die Gemeinschaft der Älteren darüber denken, was du mir erzählst?“ und sie in dieser Weise in die Sitzung „einladen“. Das leitet die Interaktion zur Familie zurück und wird als „enactment“ bezeichnet (von Wogau u.a. 2004, S.57).

Dieses Verfahren ist in einer Therapie mit türkischen Migranten wichtig und unentbehrlich, weil das Individuum im Hinblick auf die Familie und Gemeinde handelt. Die Familie und die Gemeinde haben starken Einfluss auf das individuelle Verhalten. So wird z.B. ein junger Mann nicht aus seiner Stadt in die Stadt der Ehefrau ausziehen, aus Angst, die Familie oder Gemeinde könnten über seine Männlichkeit spotten, dass die Ehefrau das Sagen hätte. In der dörftlich-türkischen Kultur herrscht nämlich die Rangordnung Mann und dann Frau, d.h. die Frau hat dem Mann zu folgen. Um solche Konflikt hervorrufende Verhaltensweisen zu verstehen, muss die Auswirkungsstärke der Familie und Gemeinde erkundet werden.

Die Basis der Psychotherapie mit türkischen Migranten ist die Vertrauensbeziehung. Da die Beziehungsstrukturen in der türkischen Gesellschaft sehr stark sind, muss auch in der Therapie eine stabile Beziehung zum Patienten aufgebaut werden. Sicherlich ist Beziehung die Therapiebasis für alle Patienten – unabhängig von der jeweiligen Kultur –, jedoch werden die Therapeuten, die mit türkischen Migranten arbeiten, merken, dass der Beziehungswunsch der türkischen Migranten intensiver gehen wird als die von deutschen Patienten. Wenn türkische Patienten die Sitzung damit beginnen, dass sie den Therapeuten nach seinem Wohlbefinden fragen, wie die Heimatstadt in der Türkei heißt oder ob er eine Familie hat, ist dies nicht als Widerstand zu deuten, sondern als Höflichkeitsgeste und den Wunsch die Beziehung zum Therapeuten zu vertiefen. Der türkische Patient verschafft sich teilbewusst hierdurch die vertraute Atmosphäre, die er benötigt, um sich öffnen zu können. Hier sollte man dem Grundsatz „Von der Oberfläche in die Tiefe“ (Freud 1905) folgen.

Die kollektivistische Wertorientierung hat Hofstede mit der Individualität im Westen verglichen und schematisch dargestellt:

Kollektivistisch

Individualistisch

Die Menschen werden in Großfamilien oder andere Wir-Gruppen hineingeboren, die sie weiterhin schützen und im Gegenzug Loyalität erhalten.

Jeder Mensch wächst heran, um ausschließlich für sich selbst und seine direkte (Kern-)Familie zu sorgen.

Die Identität ist im sozialen Netzwerk begründet, dem man angehört.

Die Identität ist im Individuum begründet.

Kinder lernen in „Wir“ Begriffen zu denken.

Kinder lernen in „Ich“ Begriffen zu denken.

Man sollte immer Harmonie bewahren und direkte Auseinandersetzungen vermeiden.

Seine Meinung zu äußern ist Kennzeichen eines aufrichtigen Menschen.

Übertretungen führen zu Beschämung und Gesichtsverlust für einen selbst und die Gruppe.

Übertretungen führen zu Schuldgefühl und Verlust an Selbstachtung.

Ziel der Erziehung: Wie macht man etwas?

Ziel der Erziehung: Wie lernt man etwas?

Beziehung hat Vorrang vor Aufgabe.

Aufgabe hat Vorrang vor Beziehung.

Tabelle: Kollektivistische und individualistische Haltungen und Wertvorstellungen in Anlehnung an Hofstede (2004)

Peseschkian verglich auch das westliche und östliche Verhalten miteinander und kam wie Hofstede zu ähnlichen interessanten kulturellen Verständnissen:

Verhalten

West

Ost

Tod

„Von Beileidsbesuchen bitten wir Abstand zu nehmen.“

„Ich muß mit meinem Schicksal allein fertig werden.“

8 bis 40 Tage lang besuchen alle Verwandte, Freunde, Bekannte und andere Mitmenschen die Hinterbliebenen und geben ihnen so das Gefühl der Geborgenheit.

„Geteiltes Leid ist halbes Leid“.

Krankheit

Wenn jemand krank ist, möchte er seine Ruhe haben. Er wird von wenigen Personen besucht. Besuche werden auch als soziale Kontrolle empfunden.

Ist hier jemand erkrankt, so wird das Bett ins Wohnzimmer gestellt, z.B. bei einem Beinbruch. Der Kranke ist Mittelpunkt und wird von zahlreichen Familienmitgliedern, Verwandten und Freunden besucht. Ein Ausbleiben der Besucher würde als Beleidigung und mangelnd Anteilnahme aufgefasst werden.

Feierabend

„Wenn mein Mann kommt, muß das Essen fertig sein. Dann setzt er sich vor den Fernseher und trinkt sein Bier, geht dann ins Bett und liest seine Zeitung.“

„Mein Mann entspannt sich am besten, wenn er sich mit Gästen unterhält. Deshalb ist es meine Hauptaufgabe, abends für Gäste zu sorgen.

Ich-Stärke

Der Begriff gehorcht dem liberalen Willensmodell der bürgerlichen Gesellschaft, in dem soziale Bezüge und Aktivitäten der Phantasie gegenüber einer leistungsgerechten Bewältigung der Wirklichkeit im Hintergrund stehen. Für die Psychoanalyse sind Ich-Stärke und Ich-Reife zentrale Begriffe.

Basis der Identifikation ist nicht das Ich, sondern das Wir. Mir kann es nur gut gehen, wenn ich im Einklang mit meinem sozialen Umfeld lebe.

Pünktlichkeit

Man legt großen Wert auf Pünktlichkeit, Unpünktlichkeit gilt als Schwäche, als tadelnswürdig. Man verzichtet eher auf den Kontakt mit dem Betreffenden, als die Unpünktlichkeit zu ertragen: „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige“.

Hier herrscht ein tolerantes Verhältnis gegenüber der Pünktlichkeit. Man erträgt es, wenn jemand zu spät kommt, sofern er überhaupt kommt (Kontakt): „Sie sind nicht zu spät gekommen, wir haben zu früh angefangen“.

Tabelle: Peseschkian; Die Notwendigkeit eines transkulturellen Austausches; in: Heise / Schuller (2002)

Diese kollektivistische Einstellung und Lebensweise der türkischen Migranten ist generationsübergreifend. Sie ist nicht nur in der älteren Generation vertreten, sondern wird auch der jüngeren Generation übertragen. Jedoch gibt es auch Ausnahmen in der zweiten Generation, die sich nicht dem Kollektivismus unterworfen und ihre eigene Individualität entwickelt haben. Erfahrungsgemäß sind es eher Frauen, die eine Individualität anstreben, während die Männer ihrem Kollektivismus verbunden bleiben. Diese Frauen haben in ihrer Erziehung gelernt, selbständig zu sein, sich zu bilden und eigenständig Entscheidungen zu treffen. Hierzu sind mir aber keine durchgeführten empirischen Untersuchungen bekannt. Diese Entwicklung müsste noch untersucht werden.

Situations- und Problemdarstellung der türkischen Migranten

Defizitäre Kindheit und Jugendphase

Bei den türkischen Migranten der ersten Generation, handelt es sich um Arbeitsmigranten, die nach Deutschland migriert sind, um zu arbeiten. Es sind keine Akademiker, sondern Arbeiter, die schon in ihrer Kindheit oder Jugend keinen oder nur einen geringen Bezug zur Bildung und Schule hatten. Die meisten von ihnen sind in Dörfern unter schlechter wirtschaftlicher Lage aufgewachsen und mussten, wenn sie überhaupt schulische Entwicklungsmöglichkeiten hatten, nach dem Unterricht auf den Feldern arbeiten und somit die Familie unterstützen. In der Therapie mit türkischen Migrantinnen kommt immer wieder die Sehnsucht nach der fehlenden Bildung zum Vorschein. Nach Aussagen der Patientinnen, wäre es früher in den Dörfern üblich gewesen, dass die Mädchen nicht zur Schule geschickt wurden, weil ihre kulturelle Rolle nicht in ihrer Bildung, sondern in der Fähigkeit liegen sollte, eine gute Hausfrau und Mutter zu sein. Deswegen ist die Anzahl der türkischen Analphabetikerinnen (der ersten Generation) im Vergleich zu den Männern größer.

Die heute bekannten arrangierten Hochzeiten waren früher in den Dörfern üblich. Patientinnen berichteten, dass sie von Seiten der Eltern ohne ihre Zustimmung im frühen Alter verheiratet wurden. Cagliyan zeigt in ihrer empirischen Untersuchung, dass „die Eltern entschieden, wann und wen ihre Kinder heiraten sollen, d.h. sie entschieden über die Lebensgestaltung ihrer Kinder. Hinter der autoritären Erziehung steckte zum einen die Angst der Eltern, dass die Kinder durch unsittliche Verhaltensweisen der Familie Schande bereiten können“ (Cagliyan 2005, S. 131 f.). Ilal-Koptagel nennt die frühe Heirat in der Adoleszenz „für die Beruhigung der sexuellen Impulse“ (Ilal-Koptagel 1988, S. 165). Die Situation der Männer sollte mit denen der Frauen nicht unterschätzt werden. Auch die Männer konnten ihre künftige Lebenspartnerin nicht freiwillig auswählen, sondern mussten in frühem Alter aus Respekt und Gehorsamkeitspflicht sich der Entscheidung der Eltern fügen. Somit fehlte ihnen ihre Kindheits- und Jugendphase. Sie waren gezwungen, in frühen Jahren die Verantwortung einer eigenen Familie zu übernehmen und einen Spagat zwischen Kindsein und Erwachsenem zu machen. „Das Bewußtsein von einer Kindheit als ’Schonzeit’ war nicht vorhanden. Kinder wurden nicht isoliert, sondern waren mit der Welt der Erwachsenen von Anfang an konfrontiert“ (Straube 1987, S. 12). Diese Erlebnisse waren für diese Menschen eine sehr hohe psychische sowie körperliche Belastung. 

Um von ihrer Vergangenheit zu flüchten, um ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglich und der Hoffnung wegen, eine bessere Lebensqualität in Deutschland zu erhalten, verließen diese Menschen (heutige Arbeitsmigranten) ihre Heimat, ihre Großfamilie und begaben sich allein in ein ihnen völlig fremdes Land – ohne jegliche Gewährleistungen, dass sie es besser haben könnten. Hier in der Migration kann von ihnen nicht erwartet werden, dass sich ihr Bezug zur Bildung rapide verbessert und sie problemlos die deutsche Sprache erlernen. 

Ältere Untersuchungen zeigen, dass eine Anpassung der Migranten an das neue Staatsystem schon vor über 20 Jahren angefangen hat, doch es findet eher eine „partielle Anpassung“ statt (Neumann 1981, S. 25; Holtbrügge 1975, S. 38). Eine strukturelle Anpassung bedeutet die Anpassung an das Statussystem wie Beruf und Wohnsituation; doch eine kognitive Anpassung (Erlernen der Sprache) fällt der ersten Migrantengeneration sehr schwer. Eine differentielle Diagnosestellung könnte das Ausfüllen von unzähligen Formularen und Fragebögen in einer Therapie bedeuten. Bei Menschen, die der deutschen Sprache sowieso nicht mächtig sind bzw. eine geringe Beziehung zur Bildung haben, könnte dies stressauslösend wirken, auch wenn sie eine Hilfestellung von ihren Kindern bekommen.

Da die türkischen Migranten schon immer in einem Kollektivismus gelebt haben und dies auch hier in der Migration weiterführen, d.h. in einem Lebenskontext leben, wo die Meinung der (türkischen) Umgebung mehr zählt als die individuellen Werte, ist es wichtig, für ihr kollektivistisches Denken und Handeln in einer kultursensiblen Therapie Verständnis aufzubringen.

Niedrige Selbstfürsorge und somatoforme Störungen

Für eine bessere Zukunft für sie und für ihre Kinder, waren bei der ersten Generation soziale Aktivitäten, Freizeitbeschäftigungen oder psychische Erholungspausen durch zwischenzeitliche Urlaubszeiten kaum vorhanden. Nach Aussagen der türkischen Patienten wurde und wird Urlaub nur einmal im Jahr, und zwar im Sommer, gemacht, um in der Heimat die Verwandtschaft lange besuchen zu können. Es ist zu vermuten, dass die aus der Kindheit erfahrene niedrige Selbstfürsorge zu einem durchgehenden Arbeiten von 365 Tagen im Jahr führt. Das durchgehende Arbeiten über Jahre hinaus und die finanzielle Notwendigkeit, auch zusätzliche Nebenjobs annehmen zu müssen, bringt die  meisten Arbeitsmigranten in sozial strukturell benachteiligte Lebenslagen und in erhebliche Gesundheitsprobleme. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) erstellt regelmäßig einen Datensatz, welcher ihrer Versicherten wegen welcher Diagnose welche Rehamaßnahme in Anspruch genommen hat bzw. was für sozialmedizinische Begutachtung notwendig ist. Anhand dieser Datensätze, die eine Differenzierung nach Alter und eine Unterscheidung zwischen deutschen und nicht deutschen Versicherten enthalten, sowie die Diagnose lässt sich folgendes erkennen:

„Im Jahr 2000 haben in Nordrhein-Westfalen 57.843 deutsche Frauen (75.337 deutsche Männer) und 4.671 Migrantinnen (9.100 Migranten) medizinisch-rehabilitative Leistungen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) in Anspruch genommen“ (Weilandt 2003, S. 22). Weiland u.a. zeigen fußend auf den Quellen der VDR vom 31.12.2000, dass den Migranten die meist vergebene Diagnose F45 Somatoforme Störungen war. Die „depressive Erscheinung sei bei den Migrantinnen im Vergleich zu den deutschen Frauen um 28,6 % und somatoforme Störung um 81,6 % und bei den Migranten gegenüber deutschen Männern um 42,6 % erhöht“ (a.a.O., S. 35). 

Natürlich ist nicht auszuschließen, dass psychische Belastungen von Migranten somatisiert werden und sich auch folglich körperlich äußern. Somatische Beschwerden müssen nicht unbedingt eine Folge körperlicher Arbeit der letzten 30 Jahre sein. Genau an diesem komplexen Punkt, d.h. bei der Unterscheidung von somatischen oder somatoformen Störungen sind interkulturelle Kompetenzen von Seiten der Ärzten und Therapeuten gefragt, um die Migranten nicht zu exponieren und ihnen somit keine Fehldiagnose zu geben und einer Fehlbehandlung zu unterziehen (vgl. Collatz 2001; Yilmaz et al. 2000; Diefenbacher & Heim 1997). Leyer deutet auf die unterschiedlichen Leidensausdrücke der Migranten und Deutschen:

„Die Präsentation der Leiden durch Migranten unterscheiden sich sowohl in qualitativen als auch in quantitativen Studien von denen der deutschen Patienten. Sie sind wesentlich häufiger mit Schmerzen verbunden, werden eher ganzkörperlich empfunden und als wesentlich schwerer bewertet“ (Leyer; in: Heise/Schuler 2002, S. 30).

In diesem Zusammenhang werden auch die belastenden Situationen für Männer und Frauen angesprochen. Türkischen Frauen seien mit ihren Rollen als Mütter, Hausfrauen und Arbeitnehmerin erschöpft, haben an sich selber hohe Anforderungen und ihre Lebenssituation würde im engen Zusammenhang mit ihren psychosomatischen Erkrankungen stehen (nervöse Unruhe, Kopfschmerzen, Migräne, Nackenrückenschmerzen, Erschöpfungszustände) (vgl. Heise/Schuler 2002, S. 30). Die türkischen Männer dagegen fürchten als Familienoberhaupt eher um ihre Arbeit und es ist auch zu vermuten, dass sie mit einem Arbeitsverlust auch ihrer Aufgabe als Familienoberhaupt nicht gerecht werden können und versagen. Diese Existenzangst führt dann bei ihnen zu Hoffnungslosigkeit, Depressivität, Sexualstörungen, Aggressivität, gesundheitsschädigende Bewältigungsstrategie (vgl. Friedrich; in: a.a.O., S. 31), sowie zur Depression, Reaktion auf schwere Belastungen, Anpassungsstörungen, Angststörungen und affektive Störungen (vgl. Weilandt 2003, S. 22).

Einstellung zur Psychotherapie

Die Psychotherapie wird in der türkischen Kultur immer noch mit einem negativen Stigma versehen. Früher wurden die Psychotherapeuten im Volksmund „Ärzte für Verrückte“ („deli doktoru“) genannt und ihre Patienten als „Verrückte“ („deli“) abgestempelt. Heutzutage existiert dieses Vorurteil immer noch – und das nicht nur in der türkischen Kultur. Psychotherapeutische Gespräche innerhalb des klinischen Kontexts (Psychosomatik-Station) mit türkischen Patienten gibt Grund zur Annahme, dass der Bezug zur Seele und der Glaube an „unsichtbaren“ psychischen Krankheiten sehr gering sein müssen. Das Bedürfnis, schmerzende Körperstellen mit Medikamenten zu behandeln, war bei den behandelten türkischen Patienten sehr groß. Nur schwer war es für diese türkischen Patienten anzunehmen, dass der Körper auf ein seelisches Ungleichgewicht mit Schmerzen bzw. mit der Verstärkung der vorhandenen Schmerzen reagieren solle.  Für die türkischen Patienten war es leichter, an körperliche Schmerzen zu glauben, die man an den jeweiligen Körperstellen bzw. durch Röntgenbilder sehen konnte und die durch eine medikamentöse Therapie eine Schmerzreduktion oder Linderung verschaffte. Ferner lässt die Unterpräsentiertheit der türkischen Migranten in psychosozialen Diensten vermuten, dass eher eine Behandlung mit Medikamenten bevorzugt wird.

Die zusätzliche psychotherapeutische Behandlung neben einer medikamentösen Behandlung wurde von den meisten türkischen Patienten mit Bedenken wahrgenommen.

Die Erfahrung mit über 70 türkischen Patienten auf einer Psychosomatik-Station zeigt, dass trotz der vorhandenen Einstellung gegenüber psychotherapeutischen Gesprächen eine zunehmende Offenheit zu beobachten ist. Erst nachdem türkischen Patienten psychotherapeutische Sitzungen erfahren haben, bemerkten sie, dass das Abwerfen von seelischem Ballast sie erleichterte.

Viele der türkischen Patienten, die im klinischen Rahmen betreut wurden, gaben an, dass sie nach dem Klinikaufenthalt eine ambulante Therapie beginnen wollen würden. Hieran ist die Entstehung einer größeren Selbstfürsorge zu erkennen, d.h. qualitativ ist die Anzahl der türkischen Patienten mit einem bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnis im Zuwachs. 

Dieses ambivalente Verhalten, zuerst gegen eine Psychotherapie zu sein und es dann doch machen zu wollen, lässt auf ihre Unsicherheit schließen. Es ist zu vermuten, dass aufgrund des nicht positiven Rufes der Psychotherapeuten („Ärzten von Verrückten“) die meisten türkischen Migranten befürchten lassen, dass ihre Gemeinde/Verwandten erfahren, dass sie eine Psychotherapie machen. Nicht wenige der türkischen Patienten äußerten den Wunsch, dass die Familie von den durchgeführten psychotherapeutischen Gesprächen nichts erfahren solle. Anscheinend ist es ihnen peinlich, weil sie wegen ihrer kollektivistischen Lebensstruktur großen Wert auf die Meinung der türkischen Gesellschaft legen und Angst haben, als „Verrückte“ stigmatisiert zu werden.

 3. Resümee

Die Gesundheit bzw. die medizinische Versorgung ist für die Migranten ein wesentlicher Bestandteil in ihrem Leben – zumal es einer der Hauptgründe insbesondere für die erste Generation ist, warum sie nicht für immer zurück in ihr Heimatland wollen. Gün kam diesbezüglich in seinen Interviews zu dem gleichen Ergebnis (vgl. Gün 2007, S. 240). Nicht selten zeigen Psychotherapiegespräche oder auch Untersuchungsergebnisse u.a. von Boos-Nünning, dass die türkischen Migranten bevorzugen, dass ihre Kinder eine medizinische oder juristische Ausbildung absolvieren (vgl. Boos-Nünnig; Hohmann; Reich 1976). Die Gesundheit hat also für die Migranten in der Migration die höchste Priorität. 

Eine kultursensible Psychotherapie in der Muttersprache bringt nicht nur für die ältere Generation Erleichterung mit sich, sondern auch für die jüngere Generation, die die deutsche Sprache perfekt beherrscht. Wie bereits oben dargestellt geht es bei einer kultursensiblen Psychotherapie nicht nur um das Beherrschen der Muttersprache der Patienten, sondern viel mehr um die Kenntnis des kulturellen Hintergrundes und des Angebotes einer adäquaten Psychotherapie. 

Ziel einer kultursensiblen Psychotherapie ist nicht nur die Erlangung einer „geschulten Wahrnehmung“ bei den Ärzten und Psychotherapeuten, sondern im Rahmen einer kultursensiblen Psychotherapie findet gleichzeitig eine Sensibilisierung bei den türkischen Patienten gegenüber der deutschen Kultur statt. Die kultursensible Psychotherapie führt zur Reduzierung der Angst vor dem Kontakt mit der deutschen Kultur. Die türkischen Patienten erfahren, dass sie mit ihren Wertvorstellungen akzeptiert werden. Gleichzeitig wird ihnen durch den Gewinn ihres Vertrauens ein bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis näher gebracht und die Angst vor Psychotherapien genommen. Um Migranten therapeutisch und ärztlich zu erreichen, müssen die Rahmenbedingungen und Therapieangebote in Kliniken und Praxen durch interkulturelle Kompetenzen erweitert und auf die fremde Kultur sensibilisiert werden.

4. Literatur

Atabay, I. (2001): Ist dies mein Land? Identitätsentwicklung türkischer Migrantenkinder und -jugendlicher in der Bundesrepublik, Herbolzheim

Boos-Nünnig, Ursula; Hohmann, M.; Reich, H. H. (1976): Schulbildung ausländischer Kinder, Bonn

Cagliyan (Gün), Menekse (2006): Sexuelle Normvorstellungen und Erziehungspraxis von türkischen Eltern – Der ersten und zweiten Generation in der Türkei und in Deutschland, Münster

Collatz, J. (2001): Aspekte der Versorgung von Muslimen im Gesundheitswesen. In: Landeshauptstadt Hannover – Referat für interkulturelle Angelegenheiten: Muslime im Gesundheitswesen – Dokumentation, Hannover 

Die EVaS-Studie (1989): Eine Erhebung über die ambulante medizinische Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Köln, Deutscher Ärzte-Verlag

Diefenbacher, A.; Heim, G. (1997): Kulturspezifische Einstellung zum Körper. Somatisierung bei türkischen und deutschen depressiven. T&E Neurologie Psychiatrie 11:870-3

El-Bahnasssawi, Salim (1993). Die Stellung der Frau zwischen Islam und weltlicher Gesetzgebung, München

Freud, S. (1905): Bruchstücke einer Hysterie-Analyse. Frankfurt am Main

Fuch-Heinritz, Werner; Lautmann, Rüdiger; Rammstedt, Ottheim; Wienhold, Hanns (1994): Lexikon zur Soziologie, 3. Auflage, Opladen

Gaitanides, Stefan (2004): Interkulturelle Kompetenzen in der Beratung; in: Nestmann, u.a. 

Hegemann, Thomas (2004): Interkulturelle Kompetenz in Beratung und Therapie; in: Radice von Wogau u.a. (2004)

Hofstede, G. (2004): Culture’s Consequences. Thousand Oaks: Sage Publications; in: Psychotherapeuten-J

ournal, 6. Jahrgang, 4/2007, S. 353-361

Ilal-Koptagel, G. (1988): Besonderheiten in der Adoleszenz bei Türken in der Heimat und in der BRD, in: 

Morten, A. (Hg.) (1988): Vom heimatlosen Seelenleben. Entwurzelung, Entfremdung und Identität, Bonn

Nauck, B. (1985): Heimliches Matriarchat in Familien türkischer Arbeitsmigranten? Empirirsche Ergebnisse zu Veränderungen der Entscheidungsmacht und Aufgabenallokation; in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 14, Heft 6, S. 450-465.

Schäfers, Bernard (1995): Grundbegriffe der Soziologie, 4. Auflage, Opladen

Straube, H. (1987): Türkisches Leben in der BRD, Frankfurt am Main; in: Atabay (1994)

Heise, T.; Schuler, J. (2002): Transkulturelle Psychotherapie, 2. Auflage, Verlag für Wissenschaft und Bildung

Hinz-Rommel, Wolfgang (1994): Interkulturelle Kompetenz, Münster

Holtbrügge, Holger (1975): Türkische Familien in der Bundesrepublik, Duisburg

Holzmann, T.H.; Volks, S.: Georgie; K., Pflug, B. (1994): Ausländische Patienten in stationärer Behandlung in einer psychiatrischen Klinik mit Versorgungsauftrag. Psychiatrische Praxis 21, S. 106-108.

Koch, E.; Schepker, R.; Taneli, S. (Hg.) (2000): Psychosoziale Versorgung in der Migrationsgesellschaft. Freiburg i.B.: Lambertus

Leyer, E. M. (1991): Migration, Kulturkonflikt und Krankheit: Zur Praxis der transkulturellen Psychotherapie. Opladen

Mecheril, Paul (2004): Beratung: Interkulturell; in: Nestmann/Engel/Sickendiek 

Nestmann, Frank; Engel, Frank; Sickendiek, Ursel (2004): Das Handbuch der Beratung, Tübingen

Neumann, Ursula (1981): Erziehung ausländischer Kinder, 2. Aufl., Düsseldorf

Pavkovic, Gari (2004): Beratung für Migranten; in: Nestmann, Engel, Sickendiek (2004)

Peseschkian, N. (2002): Die Notwendigkeit eines transkulturellen Austausches; in: Heise / Schuller (2002)

Radice von Wogau; Janine; Eimmermacher, Hanna; Lanfranchi, Andrea (Hrsg.) (2004): Therapie und Beratung von Migranten, Weinheim

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Von Denffer, Ahmad (1998): Allahs Gesandter hat gesagt…, Lützenbach

Weilandt, Caren; Rommel, Alexander; Raven, Uwe (2003): Gutachten zur psychischen, psychosozialen und psychosomatischen Gesundheit und Versorgung von Migrantinnen in NRW

Yilmaz, A.T.; Hasanoğlu, Al; Weiss, M.G. (2000): Depression und Kultur. In: Koch et al.

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